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Vorwort

Wer die Grafschaft Oxfordshire bereist, kann sich dem Reiz der Landschaft nicht entziehen. Die Kreideketten wie "Chilterns Hill", auf denen teilweise Buchenwälder wachsen, prägen den Süden von England.

Das Land wird von der Themse durch den 126 Kilometer langen "Oxford Canal" durchflossen. Romantische kleine Städtchen kann man mit dem Zug oder dem Auto bereisen und bisweilen kommt der Gedanke auf, dass die Zeit stehen geblieben ist.

Berühmt ist Oxfordshire in erster Linie durch seine Universitätsstadt Oxford und dem immer noch sagenumwobenen Stonehenge, aber auch nicht zuletzt durch Filmaufnahmen von "Harry Potter und der Feuerkelch" im New College in Oxford.

Wir reisen in die Zeit des Monarchen Georg III. Premierminister war Spencer Percevals von den Torys.

Die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage hatte sich etwas beruhigt, denn der Unabhängigkeitskrieg war mit der Erklärung vom 4. Juli 1776 beendet, obschon England noch lange an dem Verlust seiner amerikanischen Kolonie zu leiden hatte.

Nicht alle waren damals mit der Politik des englischen Kolonialismus einverstanden. Es gab starke Proteste und Gegenbewegungen. Die Polizei musste am "Speakers Corner" im Londoner Hyde-Park zeitweilig Wachen positionieren, um Gegner und Befürworter auseinanderzuhalten. Auch in Oxford wurden Demonstrationen gegen die Kolonialpolitik Englands veranstaltet. Beteiligt waren unter anderem auch einige amerikanische Studenten, die im Herford College eingetragen waren. Diese hatten jedoch praktisch über Nacht, unter massivem Druck von national gesinnten Gruppen, alles hinter sich gelassen und waren verschwunden.

Wenn wir von der Universität in Oxford vier Kilometer nordwestlich der Themse entlang wandern, gelangen wir nach Gostrow, eine Benediktiner-Abtei, die von Nonnen bewohnt ist.

Unsere Geschichte beginnt am 4. Juli 1810.



Die Ankunft

Es war ein angenehmer Morgen im Juli und Roman, der neu ernannte Police-Inspector von Oxford, ritt nach Gostrow, etwa zweieinhalb Meilen von Oxford entfernt. Er hing seinen Gedanken nach.

Irgendwann, Anfang 1791, hatte er sich auf eine freie Stelle in Oxford beworben. Die Enge und die stickige Luft Londons hatten ihm zunehmend die Lust am Dienst bei der Polizei genommen. Dazu kamen noch das enorm schnelle Wachstum der Bevölkerung Londons und die damit verbundene Kriminalität. Die notwendige Reformierung des Polizeiwesens wurde wegen ständiger Streitereien zwischen Ober- und Unterhaus hinausgezögert.

Dann, im Mai, kam eine Zusage auf die längst vergessene Bewerbung und Roman trat schließlich im Juli 1791 seine neue Arbeitsstelle an.

Zufällig war der Posten eines Police-Inspektors frei geworden. Eine willkommene Beförderung, besonders was die Bezahlung anging. Von dem "Neuen" wurde allerdings Durchsetzungskraft, schnelle Entscheidungen und sensibles Vorgehen erwartet.

Bei seiner Ankunft hatte sich Oxford von seiner besten Seite gezeigt. Am Tag danach verlieh man dem Komponisten Haydn die Ehrendoktorwürde der Universität, der auch bei dieser Gelegenheit seine Symphonie Nummer 92 aufführte, die der Volksmund schnell als "Oxford Symphonie" titulierte.

Nicht alle waren mit seiner Versetzung und seinem neuen Posten einverstanden. Man hatte ihm den Police-Sergant Seamus Grayson zur Seite gestellt, der jetzt in seinem Büro in St. Aldates Police-Station seinen Dienst verrichtete. Roman seufzte.

Jetzt lenkte Roman sein Pferd zur Abtei Gostrow. Sie wurde von Benediktinerinnen bewohnt, die normalerweise nur mit den kirchlichen Vorschriften in Konflikt gerieten, wenn überhaupt.

Er griff noch einmal nach dem Brief in seiner Seitentasche. Dieser war ohne Datumsangabe und ganz allgemein an die Polizei in Oxford gerichtet. Demzufolge durchlief der Brief verschiedene bürokratischen Stationen und war letztendlich bei Finley Utterson, dem Police-Chief-Inspector, gelandet.

An die Polizei in Oxford,
in unserer Abtei Gostrow wird der Kirchenhistoriker Sir Walter Torley vermisst.
Ich habe ihn seit einer Woche nicht mehr beim Essen gesehen.
Das kommt mir merkwürdig vor. Bitte forschen Sie nach.
Violet Adderley, Köchin.

Gestern hatte der Police-Chief-Inspecor während eines Meetings Roman beiseite genommen, ihm den Brief in die Hand gedrückt und gesagt: "Machen Sie sich einen schönen Tag, schauen sie nach, wo dieser Sir Walter Torley abgeblieben ist. Wahrscheinlich hat er sich verirrt oder er ist einfach abgereist ohne sich zu verabschieden. Bei dieser Gelegenheit lernen sie auch Land und Leute kennen."

Roman steckte den Brief wieder ein. Der Weg zur Abtei war nicht so gut ausgebaut, sein Pferd trabte langsam voran und Roman konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen.

Es war für ihn eine willkommene Abwechslung, sich von der alltäglichen Polizeiarbeit zu erholen. Allerdings grübelte er darüber nach, ob sein neuer Posten jetzt entbehrlich war oder nur er.

Eines guten Stück des Weges noch in Richtung Süden und die niedriggebauten Klostergebäude schimmerten durch den Morgennebel. Sie wurden von einer Mauer umschlossen. Ein hoher runder Glockenturm ragte wie ein Fremdkörper heraus und passte nicht so richtig zu dem Baustil des Klosters.

Ein großes Schild mit der Aufschrift: "Gott ist überall" war über dem Tor angebracht. Roman stieg vom Pferd und zog an einer Schnur. Irgendwo schlug eine Glocke an. Roman musste noch mehrmals an der Schnur ziehen, bis das Tor geöffnet wurde.

Man sah das Gesicht einer älteren Nonne, das zur Hälfte mit einem schwarzen Velan verdeckt war. Das Habit und die übrigen Teile der Bekleidung hatten trotz der sommerlichen Jahreszeit die gleiche Farbe, eine typische Anordnung des Benediktinerordens.

"Ja?", kam es kurz von innen.

"Ich bin Police-Officer von Oxford und möchte zur Äbtissin Notburga Gale.", antwortete Roman.

"Ich bin Brenda Gleeson, hier beten gerade alle vor dem Mittagsmahl, sie können solange warten, kommen sie rein."

Er führte sein Pferd durch das Tor und sah sich erst einmal um.

Eine Reihe von Gebäuden in denen Gerätschaften und Werkzeuge untergebracht waren, ersetzte die Mauer. Daneben hatte man Ställe mit Kühen und Schafen gebaut.

Etwas abseits zur linken Seite hörte man Gesang aus einer kleinen schlichten Kapelle. Daneben ein langgestrecktes niedriges Gebäude mit Vordach, in der die die Nonnen ihre Unterkünfte hatten. Ganz hinten in einer Ecke war ein kleiner Begräbnisplatz untergebracht.

Weiter im Kreis hatte man ein großes langes zweistöckiges Hauptgebäude errichtet, in dem die Bibliothek, die Verwaltung und das Dienstzimmer der Äbtissin untergebracht waren. Ein Kapitelsaal verband die große, im gotischen Stile erbaute, Abteikirche. Alle Gebäude, mit Ausnahme der landwirtschaftlichen, waren mit einem Kreuzgang verbunden - überdachte Säulen aus Holz - der zum Innenhof offen war. Das Dominierende aber, war dieser dreißig Meter hohe Glockenturm, der alles überragte.

"Sehen sich nur um, Inspector", sagte Brenda, wir sind eine einfache Klostergemeinschaft. Dieser Turm da, er ist von den "Dreizehn" anlässlich des fünfhundertjährigen Bestehens unseres Klosters gestiftet worden. Das war so im Sommer 1776. Etwa ein Jahr zu spät, aber immerhin. Die Bauleute haben leider zu schnell gearbeitet, denn der Turm fällt nach vierzehn Jahren in sich zusammen. Eine Glocke ist schon heruntergefallen, Inspector. Gott sei's gedankt, niemand wurde verletzt. Wir mussten aber die Tür verschließen."

Roman blickte zum Turm. Bei genauem Hinsehen, machte dieser tatsächlich keinen vertrauenswürdigen Eindruck. Die Haltegitter auf der Plattform oben fehlten teilweise, Steine im Mauerwerk waren rausgefallen oder gelockert und Moos hatte sich angesetzt.

Er fragte sich, was die "Dreizehn" dazu bewogen hatte, einen derartigen Turm zu stiften, der so gar nicht hierher passte. Das Kabinett, also der Bürgermeister, die vier Aldermen und die acht Assistenten, auch "Die Dreizehn" genannt, wollten wohl der Kirche ein Zeichen ihrer Gunst setzen. Sie hätten lieber die Stadtkirche St. Martin Kirche in Carfax renovieren sollen, die langsam aber sicher ihrem Zerfall entgegensah.

Violett führte Roman in den Vorraum der kleinen Kapelle, wo er auf einem schlichten Stuhl Platz nahm. Wortlos führte sie sein Pferd zur Seite. Der Gesang endete, stattdessen hörte man jetzt gemeinsame Stimmen zum Gebet, dann schließlich ein lautes gemeinsames Amen. Mehrere schwarz gekleidete Frauen verließen die kleine Kapelle. Sie lachten, scherzten und genossen offensichtlich das Ende des Mittagsgebets.

Den Schluss bildeten zwei Nonnen, die sich von den anderen durch ihre Persönlichkeiten unterschieden. Beide gingen aufrecht und schweigsam durch die Tür der Kapelle. Beide waren etwa gleich groß und ungefähr gleichaltrig um die fünfzig Jahre. Man konnte sie wegen der Velans, die ihre Haare verdeckten, kaum auseinanderhalten.

Roman stand auf, ging den beiden entgegen, die ihn freundlich und erwartungsvoll ansahen.

"Ich bin Roman, Police-Inspector aus Oxford und komme wegen einer Vermisstenmeldung." Er zeigte den beiden Nonnen den Brief, die sich überrascht ansahen.

Die Nonne mit den blauen Augen stellte vor: " Ich bin Äbtissin Notburga Gale und das ist Priorin Prudence Hailey. Wir sind erstaunt, das hören wir zum ersten Mal, wir können uns das nicht erklären. Was sagst du dazu Prudence?"

"Ich bin auch erstaunt, Inspector, allerdings muss ich sagen, persönlich habe ich Sir Walter auch schon länger nicht mehr gesehen. Was sie aber nicht wissen können, Inspector, sehen sie sich den Namen der Absenderin an. Brenda Yeardley. Sie ist als Hospitalaria eingesetzt, das heißt für Gäste zuständig. Da wir hier kaum welche haben, konnten wir ihr diese Aufgabe sorglos anvertrauen, sie ist über achtzig Jahre, verstehen sie was ich damit sagen will? Wir sind eine Familie und haben uns lebenslang für den Benediktinerorden entschieden. Wir sorgen auch für Ordensmitglieder die schon älter sind."

Prudence fuhr fort: "Inspector, Schwester Brenda ist bestimmt ein Irrtum unterlaufen. Das klären wir jetzt sofort. Begleiten sie uns in die Bibliothek, dem eigentlichen Wirkungsbereich von Sir Walter."



In der Bibliothek

Sie betraten den Bibliotheksbau, ein großer Saal, der als Säulenhalle ausgebaut war. Neben Schriften zu den Benediktusregeln und theologischen Werken, war auch andere Literatur wie Geschichte, Philosophie in den Regalen zu finden. Als Mobiliar sah man mehrere Lesepulte und Stühle, sowie ein riesiger Tisch, auf dem noch mehr Bücher, Papier und Schreibmaterial lagen. Mehrere große verzierte Fenster sorgten tagsüber für ausreichende Sicht, während für schlechtes Wetter oder bei Nacht Kerzen und Öllampen angezündet wurden.

"Ehrwürdige Schwester Aeltfthryd, seid ihr anwesend?", rief Notburga.

"Ich bin sofort da", hörte man von oben. Eine etwas füllige Gestalt im Benediktiner-Habit stieg von der Leiter. "Wir sollten mal wieder den Staub entfernen, ich könnte dazu die Hilfe anderer Schwestern gebrauchen." Die Worte waren an Notburga und Prudence gerichtet.

Schwester Aeltfthryd reinigte sich die Hände an einem Tuch. "Was führt euch in mein Reich?" Aeltfthryd lachte, während sie Roman neugierig ansah. Offensichtlich gefiel ihr das, was sie sah. "Ich lasse uns was zu trinken bringen."

"Eine gute Idee, ich habe seit heute Morgen nichts mehr getrunken." Roman beschloss, direkt vorzugehen: "Ich bin Inspector Roman aus Oxford und gehe einem Hinweis nach, dass Sir Walter vermisst wird. Wann war er das letzte Mal hier und was ist seine Aufgabe?"

Das Lächeln von Aeltfthryd ließ etwas nach, ihre Gestalt versteifte sich ein wenig. "Tatsächlich vermisse ich ihn seit drei Tagen. Er sollte als Kirchenhistoriker Zeichnungen des Grundstücks und Baupläne dieses Klosters sammeln und auf den neuesten Stand bringen. Von den damaligen ersten Gebäuden bis heute. Er ist von der Diözese aus hierher beordert worden. Er hat hier nicht übernachtet, sondern ist abends wieder nach Oxford geritten. Manchmal hat er mittags Essen eingenommen, aber nicht regelmäßig. Wie gesagt seit drei Tagen ist er weggeblieben."

Notburga unterbrach die Unterhaltung: "Wir lassen sie beide jetzt alleine, klären sie das, Inspector und berichten sie uns." Beide verließen die Bibliothek.

Roman, den man hinter vorgehaltener Hand als "ausgekochten Verhörspezalisten" bezeichnete, kam dies gerade richtig.

"Nun mal ernsthaft Schwester Aeltfthryd, ich sehe es ihnen an, da steckt noch mehr dahinter. Mit wem hat sich Sir Walter noch unterhalten? Was hat er, außer Baupläne zu studieren, noch gemacht?

Schwester Aeltfthryd wurde bleich im Gesicht. "Ich weiß nicht was sie meinen, Inspector, er hat sich beschwert, dass Grundstückspläne nicht zu finden sind, die eigentlich hier sein sollten. Jemand hat sie an sich genommen, mehr weiß ich nicht."

Roman: "Das heißt, sie sind also nicht vollständig. Wer hat noch Zugang zur Bibliothek und wer könnte ein Interesse haben, Grundstückspläne an sich zu nehmen und wozu?"

Aeltfthryd zuckte beinahe unchristlich mit den Schultern: "Wir sind hier eine Gemeinschaft, Inspector, und vertrauen uns gegenseitig. Die Tür ist immer offen, falls sich jemand ein Buch ausleihen will."

Roman überlegte und sagte schließlich: "Ich werde nach den Plänen forschen, das ist ein Ansatzpunkt. Ich werde Äbtissin Prudence informieren, dass ich in allen Zimmern der Bewohnerinnen dieses Klosters nachsehen werde. Bei Ihnen als direkte Beteiligte werde ich dann anfangen."

Schwester Aeltfthryd verlor ihre Fassung: "Inspector, bitte tun sie das nicht. Vielleicht können sie das umgehen."Sie griff in den Ärmel ihres Habits und holte mehrere Briefe daraus hervor.

Roman griff nach dem letzten Brief und las:

Meine liebe Aeltfthryd,
die letzte Schriftrolle des Grundstückes war hilfreich für unsere Pläne.
Sie ist mit dem Jahre 1611 datiert, was noch nicht ganz zu meiner Vermutung passt. Förderlicher wären Grundstückspläne früheren Datums.
Kannst Du noch ein letztes Mal nachforschen? Ich bin sicher, wir werden die Katakomben zusammen entdecken.
Dann sind wir in Oxford berühmt und es wirkt sich auch auf meine berufliche Laufbahn aus.
Du kannst dann endlich aus Deinem tristenlangweiligen Leben heraus und wir machen uns beide ein schönes Leben.
In aller Liebe Dein Nicodemus.
P. S. Wie immer den Grundstücksplan an Nepomuk den Lieferanten.

Als Roman den Brief zu Ende gelesen hatte, sah er Aeltfthryd durchdringend an. "Wer ist Nicodemus und was sollen das für Katakomben sein?"

"Nicodemus ist Assistent des Bürgermeisters von Oxford, wir haben uns vor einem Jahr auf dem Markt kennengelernt. Später haben wir uns ein paar Mal getroffen. Er ..., Er vermutet unter dem Kloster stillgelegte Katakomben, benötigt aber dazu alte Pläne vom Grundstück. Er sagt, es würde zu sehr auffallen, wenn er sich hier oft umsieht."

Aeltfthryd senkte den Kopf und brach in Tränen aus. "Glauben sie mir, ich habe nichts mit dem Verschwinden von Sir Walter zu tun. Er hat gemerkt, dass Pläne fehlen, regte sich mächtig auf und wollte es Notburga erzählen. Das war vor drei Tagen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen."

Roman dachte nach, dann sagte er schließlich: "Schwester Aeltfthryd, ich nehme mal an, das sie die Wahrheit sagen. Sie unternehmen erst mal gar nichts und machen so weiter wie bisher. Sie hören noch von mir."



Der Drahtzieher

Wieder in Oxford, lenkte Roman sein Pferd die leicht abschüssige Straße von St. Aldate's herunter bis zur Oxforder Town Hall. Sein Pferd ließ er stehen und lief durch den Eingang die hölzernen Stufen hinauf bis in die dritte Etage. Am Ende des Ganges, links und rechts, hatte man die Dienstzimmer von Herbert Parson den Bürgermeister eingerichtet. Es war seine erste Amtszeit nach seiner Tätigkeit in der alten Bank.

Schließlich fand er, was er suchte: Das Zimmer des Ratsmitgliedes Nicodemus Norsworthy.

Roman klopfte kurz und trat ein. Ein Mann, etwa 35 Jahre, saß vor einem großen Schreibtisch und trank seinen Five O'Clock Tea, während er zwischen den Papieren blätterte. Roman stellte sich vor und kam direkt zum Thema, indem er ihm den Brief der Bibliothekarin Aeltfthryd zeigte.

Nicodemus verzog keine Miene. Sein Kommentar: "Na und, was ist daran merkwürdig? Schwester Aeltfthryd und ich lieben uns. Wir wollen zusammenkommen. Es ist nicht verboten Nachforschungen anzustellen." Er lehnte sich zurück.

Roman antwortete: "Normalerweise würde ich ihnen recht geben, aber in diesem Falle scheint mir etwas faul. Ein angesehen Ratsmitglied auf der einen Seite, der seine Liebe einer Benediktiner-Nonne auf der anderen Seite gesteht, scheint mir etwas merkwürdig. Schon allein der gesellschaftliche Standesunterschied. Da stimmt doch etwas nicht.

"Inspector, was wollen sie eigentlich?"

"Zunächst händigen sie mir alles aus, was dem Kloster gehört. Sie haben es sich ohne Wissen der Klosterführung aneignet, das wird bestimmt "die Dreizehn" interessieren und den Bürgermeister selbst. Sie sagen mir am besten, was wirklich dahintersteckt. Ich entscheide dann, was ich mit der Information mache."

Bei den Worten "die Dreizehn" wurde das Gesicht von Nicodemus bleich und er rutschte tiefer in seinen Sessel. Man sah ihm an, dass er plötzlich Angst hatte. Nach einer Pause sagte er: "Also gut Inspector, ich sage ihnen jetzt wie es wirklich ist. Wir, das heißt ich, bin tatsächlich auf der Suche nach den Katakomben, die ich unter dem Grundstück des Klosters vermute. Aeltfthryd dient mir nur als Vorwand, damit sie mir Pläne aus der Bibliothek verschafft. Ich habe nachgeforscht, da sollen sich Gold und Silber drin befinden. Wie sie vielleicht wissen, belagerten die Truppen der "Roundheads" also der Anhänger des Parlaments 1646 die Stadt Oxford bis diese kapitulierte.

Vorher aber haben die reichen Bürgern von Oxford aus Angst ihr Gold und Silber in unterirdischen Anlagen des Klosters bei Gostow gebracht. In meiner Stellung verwalte ich das Stadtarchiv und die städtischen Immobilien, deshalb bin ich sicher, dass an der Geschichte was dran ist."

Roman musste sich beherrschen um den Mann gegenüber keine Moralpredigt zu halten. Was hatte er, Roman, denn schon in Hand? Allenfalls Betrug oder unerlaubtes Beschaffen historischer Dokumente. Wenn sich ein spätes Mädchen wie Aeltfthryd Liebe vorgaukeln ließ, war das kein Verbrechen im Sinne der Justiz.

Er ließ sich von Nicodemus alle Grundstückspläne des Klosters aushändigen und verließ dessen Büro. Während er die Treppe hinunterging, grübelte Roman nach, warum Nicodemus eine Angst vor den "Dreizehn" hatte, obwohl er, Roman, doch nur mit Konsequenzen drohen wollte, um ihn weich zu machen.



Auf der Suche nach Sir Walter

Am nächsten Tag nahm Roman seinen Police-Sergant Seamus Grayson mit ins Kloster. Sofort nach der Ankunft schickte er ihn ins Gelände, damit er sich nach etwas umsehen solle, was auf Sir Walter hinwies.

Er selbst informiert Notburga von dem Ergebnis seiner Nachforschungen in der Town Hall.

Sie war sichtlich enttäuscht von Aeltfthryd und behielt sich Maßnahmen vor.

Roman lieh sich die Grundstückspläne des Klosters aus. Sein Jagdinstinkt war geweckt. Er studierte die Grundstückspläne in der Bibliothek, wobei Aeltfthryd sich im Hintergrund hielt. Nur einmal schlich sie sich still und leise an Roman vorbei. Von der Äbtissin ernstlich ermahnt, war sie traurig und hatte Angst, einerseits weil sie auf den Stadtrat reingefallen war, andererseits weil sie nicht wusste, wie es im Kloster mit ihr weiterging.

Roman beschloss, die Suche nach Sir Walter systematisch anzugehen. Dazu wollten er und sein Police-Sergant sich erst mal draußen im Hof und dann in der näheren Umgebung des Klosters umsehen.

"Schon was Auffälliges gefunden, Seamus?"

"Nein, Sir, hier herrscht Ordnung. Alles ist sauber. Wir sollten uns an den ältesten Grundstücksplan halten und noch mal alles absuchen."

Zusammen verglichen sie alle Ecken und Mauerbegrenzungen mit den Einträgen auf dem Grundstückplan ab, ohne Ergebnis.

"Nichts, nirgendwo lockere Erde im Boden, wo man ein Leiche vergraben könnte. Auch in den Stallungen und den anderen Gebäuden nichts Außergewöhnliches. Sogar diesen Friedhof habe ich untersucht, kein frisches Grab, keine aufgeworfenen Erde. Bleiben nur noch die Nonnenunterkünfte, die Kapelle und das große Haus, was meinen sie, Sir?

Roman zögerte, er wollte nicht die Privatsphären der Nonnen verletzen. Es war kaum anzunehmen, dass eine der Nonnen Sir Walter tot oder lebendig unter ihrem Bett versteckte.

"Was haben wir noch? Haben wir was übersehen?", frage Roman.

Nur den Turm, der seit zehn Jahren da steht, kommt mir etwas seltsam vor, aber den habe ich schon untersucht. Den Schlüssel hatte die Klosterverwaltung. Hoch, runter, wieder hoch. In den letzten Jahren bin ich nicht mehr so oft Treppen gelaufen wie heute. Man muss da vorsichtig sein, Steine sind runtergefallen. Auch mal eine Glocke, der steinige Boden hat Sprünge und ist außerdem nass.

Die haben den Turm direkt über ein Wasserloch gebaut." Seamus schüttelte den Kopf und sah missbilligend auf seine nassen Schuhe.

Roman seufzte. "Wir rücken ab, morgen suchen wir außerhalb des Klosters weiter."

Er gab Seamus ein Zeichen. Beide ritten zum Tor, Seamus stieg ab und öffnete es. Dabei hinterließ er sichtbar feuchte Schuhabdrücke.

Etwas ging Roman im Kopf herum. Was war das nochmal? Da stimmte doch was nicht, aber was? Er grübelte.

"Sir, ist alles in Ordnung?", Seamus sah den Inspector fragend an.

Wieso hatte sein Sergant eigentlich nasse Schuhe?

"Kommen Sie, Seamus wir müssen noch mal zurück." Ohne auf seinen Sergant zu warten riss er sein Pferd herum und ritt zum Turm. Er kniete nieder und untersuchte die feuchten Steine im Eingang. "Sergant holen sie Schaufeln und Hacke aus der Hütte dort, Beeilung!"

Roman stampfte mehrmals auf die feuchten Steine. Es klang hohl. Das hatte bisher niemand gemerkt, weil jeder ganz normal über den Boden gelaufen war.

Beide lösten die Steine. Dann mit den Schaufeln ein Loch darunter. Der Wasserspiegel stieg an.

Der Sergant beschwerte sich. "Da ist keine Leiche, Sir, nur eine unbekannte Wasserstelle. Wir sollten aufhören"

"Weiter, graben sie weiter, Seamus, ich will wissen was da unten ist."

Plötzlich stießen sie auf mehrere Holzplanken.

"Was jetzt, Sir, weiter? Jetzt bin ich aber auch neugierig."

Roman antwortete nicht und machte mit seinem Spaten eine Lücke zwischen zwei Holzplanken. Das Wasser lief ab.

"Das ist keine Wasserstelle, Sir, das ist was anderes", sagte Seamus. Beide waren verschwitzt und Roaman hatte jetzt auch nasse Füße.

Sie entfernten alle Bretter. Darunter sahen sie ein tiefes Loch. Modriger Geruch kam ihnen entgegen.

"Sir, hier ist keine Leiche, was zum Teufel ist da unten?"

Roman wusste es, er wusste es seit er das Holz gesehen hatte. Dies war der Eingang zu den Katakomben von denen Nicodemus, das Ratsmitglied, gesprochen hatte. Es war also tatsächlich wahr. Es war nicht zu glauben.

"Sergant Seamus, das sind Katakomben, über hundert oder zweihundert Jahre alt. Wir beide besorgen uns was zum Ausleuchten und gehen da runter. Bis dahin kein Wort zu niemand, verstanden? Sie als Polizist sind zur Geheimhaltung verpflichtet. Wir suchen immer noch nach einer Leiche."

Es dauerte einige Zeit bis Seamus antwortete, er musst das Ganze erst mal verdauen.

"Sir, ist das nicht einfach nur eine große Grube, die wir wieder zuschaufeln sollten?", so etwas wie eine verzweifelte Hoffnung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. "Sollten wir das nicht lieber der städtischen Verwaltung überlassen?"

Trotz der ernsten Lage, musste Roman lachen.

"Ich wusste gar nicht, dass sie so ein Hasenfuß sind, Sergant, in ihren Papieren steht, sie haben eine militärische Ausbildung. Wenn sie nicht wollen, steige ich morgen alleine da runter, aber bitte, halten sie solange den Mund, bis ich wieder zurück bin"

Der Sergant schluckte ein paar Mal, dann sagte er schließlich seine Teilnahme zu. Roman verschloss sorgfältig die Turmtür und beide besprachen die Einzelheiten des morgigen Unternehmens, während sie nach Hause ritten.



Ein grausiger Fund

Für den Ausflug in die Unterwelt hatten sich beide gut vorbereitet. Schaufeln und hohe Stiefel hatten sie mitgebracht und das wichtigste, mehrere Fackeln.

Roman hatte vorher die Äbtissin informiert, die nicht schlecht über die Existenz von Katakomben unter dem Kloster gestaunt hatte. Jetzt war sozusagen der ganze Hofstaat erschienen, um der Expedition beizuwohnen.

Roman und Seamus entfernten die Holzplanken, die den Eingang verschlossen und stiegen mit Hilfe einer Leiter nach unten.

Flackerndes Licht erhellte die Wände. Die Luft war feucht, roch abgestanden und die Wände waren nass. Die ersten Meter mussten sie durch Wasser laufen.

"Wo sind wir hier, Sir?", fragte Seamus. "Das sieht aber nicht danach aus, als wäre kürzlich jemand hier gewesen. Keine Spuren, nur Wasser und Steine. Wenn jemand eine Leiche hier entsorgt haben sollte, machte er sich nicht so viel Mühe, sie so weit nach hinten reinzutragen. Es hat keinen Zweck, wir sollten umkehren."

Roman musste dem Sergant Recht geben. Was hätte der gesagt, dass er, Roman, gar keine Leiche vermutete, sondern dass sie in Wirklichkeit auf Schatzsuche waren?

"Lassen sie uns weitergehen. Wenn wir schon mal hier sind, können wir auch nachforschen was da vorne noch kommt. Das hier interessiert bestimmt Geologen oder die Stadtchronik von Oxford. Roman ging voran und hielt seine Fackel höher. Die Höhle wurde immer enger, bald musste das Ende kommen.

Er hörte Seamus fluchen: "Verdammte Steine, beinahe wäre ich gefallen. Sir, vorsichtig, leuchten sie nach unten"

Roman sah auf den Boden. Das war kein Stein! Er nahm seine Schaufel und machte das Hindernis frei. Der Stein entpuppte sich als ein Fuß. Der Sergant kam mit seiner Fackel näher. Plötzlich war es nicht nur ein Fuß, sondern ein ganzes Skelett das halb in der Erde vergraben war und halb an der Höhlenwand saß. Roman und Seamus sahen sich an.

"Wir haben Sir Walter gefunden, verdammt, das hätte ich nicht erwartet. Der Mörder muss sich alle Mühe gegeben haben, ihn so weit nach hinten zu tragen, aber warum?", fragte Seamus.

Sie machten das Skelett ganz frei.

"Seamus, das da ist nicht Sir Walter. Diese Leiche liegt nicht erst seit einer Woche da. Sehen sie das Skelett? Die Knochen sind blank, die Kleider verwest und die Haare ganz ausgetrocknet. Ich wette, die Leiche ist mindestens zehn Jahre oder länger hier".

Der Sergant wandte sich an Roman: "Sehen sie sich die Hände an, die sind gefesselt und an die Wand gebunden. Am besten wir holen eine Plane und schaffen das Skelett raus."

Roman hob seine Fackel ganz nach oben. "Das schaffen wir nicht alleine,Sergant."

"Sir?" Seamus blickte Roman fragend an.

Dessen Gesicht war kreidebleich, das flackernde Licht gab ihm ein gespenstiges Aussehen. Roman deutete mit seiner Fackel in den Gang nach vorne und beide wussten, dass sie diesen Anblick nicht so schnell vergessen würden.

An den Wänden saßen oder lagen noch andere Skelette. Alle deren Hände waren gefesselt und an den Wänden befestigt. Gemeinsam zählten sie fünfzehn Knochengerüste.

Schließlich sage Roman: "Seamus, tun sie mir einen Gefallen, fragen sie nicht was hier los war. Stellen sie keine Vermutungen an, wir gehen einfach wieder raus. Keine Spuren verwischen. Wir lassen hier alles stehen und liegen. Das hier", Roman würgte, dann holte er tief Luft und machte eine Pause, "das hier ist ein Tatort, der für uns eine Nummer zu groß ist."

Beide verließen schnell, vielleicht etwas zu schnell, die Höhle, die keine Katakombe war.

Einige Stunden später war der bisher friedliche Klosterhof etwa so belebt, wie der Convent Garden in London. Überall waren Pferdekutschen, die auf dem Hof unschöne Radspuren hinterließen. Polizisten, mit und ohne Uniform, die in Gruppen standen und sich unterhielten. Man hatte den Eingang zur Höhle erweitert, um der Spurensicherung die Arbeit zu erleichtern.

Der Mittelpunkt der ganzen Aufregung aber waren die fünfzehn Skelette, die man in Säcken verpackt, in einer Reihe nebeneinander gelegt hatte.

Roman begab sich zu den Nonnen, die etwas ratlos unter dem Kreuzgang dem ganzen Treiben zusahen.

"Wie lange soll das noch gehen, Inspector?", fragte Notburga, die Äbtissin. "Unser Tagesablauf ist nachhaltig gestört. Was sind das für Menschen dort?" Notburga zeigt mit der Hand auf die Leichensäcke. Dabei rutsche ihr Ärmel etwas nach unten, so dass ein verzierter Armreif zu sehen war. Roman war überrascht, dass Nonnen überhaupt Schmuck anlegten, wollte aber nicht weiter nachfragen.

"Wir sind bald fertig, Frau Äbtissin, danach haben wir für sie Stadtbedienstete abgestellt, die ihren Hof wieder in Ordnung bringen. Das da sind Leichen, die wir bisher nicht einordnen können. Sie werden in Oxford im Morgue untersucht. Sir Walter ist aber nicht darunter. Wir müssen weiter suchen. Ein Vermisstenfall scheint mir jetzt eher unwahrscheinlich."

Der leitende Untersuchungsbeamte nahm in beiseite: "Inspector, die sind alle verhungert oder verdurstet, keine Zeichen von Gewalteinwirkung. Alle waren gefesselt, keiner konnte sich befreien. Man hat sie einfach ihrem Schicksal überlassen, das ist mindesten zwölf Jahre her oder länger."

Roman war fassungslos, obwohl er sich so was schon gedacht hatte. "Sonst noch was, Sir"?

"Ja, alle Skelett sind männlich und niemand schätzungsweise über dreißig Jahre alt geworden, keine Papiere, keine Brillen, nichts wo man ansetzen könnte. So was habe ich noch nie gesehen. Wir werden sie natürlich näher untersuchen, aber dabei wird wohl nicht viel rauskommen. Sie bekommen den Bericht noch. Es wird aber dauern, immerhin sind es fünfzehn Skelette."

Der Beamte verabschiedete sich. Roman ging noch mal auf die Gruppe der Nonnen zu. "Der Turm ist vorerst gesperrt. Bitte halten sie sich daran. Wir melden uns, wenn es was Neues gibt"

Zu Seamus gewandt: "Für heute habe ich genug, lassen sie uns Feierabend machen."



Der erste Verdacht

Obwohl das Verschwinden von Sir Walter offenbar nichts mit dem schrecklichen Verbrechen in der Höhle zu tun hatte, rechneten weder Roman noch Seamus mit einem einfachen Verlauf der Suche nach ihm. Beide hatten sich noch nicht so richtig von dem Schock erholt.

Der Police-Chief-Inspecor Finley erschien in Romans Büro, ließ sich alles genau berichten und hatte mitfühlend mit der Zunge geschnalzt. Irgendwie hatten die Zeitungen etwas über zwanzig Leichen gehört, denn seit heute Morgen standen Reporter vor der Tür. Finley wollte die Sache mit Sir Walter schnell erledigt haben, um das eine mit dem anderen nicht zu vermischen.

So etwas wie ein Plan war festgelegt worden, wo man die Suche am besten beginnen könnte, es war aber kein genauer Ansatzpunkt da. Roman und Seamus mussten auf gut Glück in der Nähe des Klosters weitersuchen. In seinem Hotel hier in Oxford war der Kirchenhistoriker noch angemeldet, aber seit vier Tagen hatte ihn niemand mehr gesehen. Man ging jetzt offiziell von einem Verbrechen aus.

Die Sonne erreichte ihren höchsten Stand. Träge und faul ritten die beiden Polizisten um das Kloster, um schließlich den Weg durch Feld und Flur in Richtung Oxford zu nehmen. Manchmal mussten sie ihre Pferde ermahnen, die einfach stehen bleiben wollten. Über dem Boden flimmerte die warme trockene Luft, hoch oben kreisten einige Raubvögel hungrig auf der Suche nach Nahrung über frisch geerntete Felder. Man hörte keinen Laut. Natur und Wind erlaubten sich ihre sommerliche Mittagspause.

Auf dem Feldweg schwebte von weitem, einer Fata Morgana gleich, ein undeutlicher Schatten heran, der sich bald in Punkte auflöste. Daraus wurden schwarze Gestalten, die sich sogleich als Nonnen entpuppen sollten, beladen mit Gartengeräten. Prudence, die Stellvertreterin der Äbtissin, grüßte die beiden Polizisten, dann war die Gruppe vorbei und es wurde wieder still.

Der Sergant schlug eine Ruhepause unter einem schattigen Baum vor. Den beiden war nach einem Mittagsschlaf zumute. Müde setzten sie sich ins getrocknete Gras. Während Seamus einen Lederschlauch mit Wasser öffnete, beobachte Roman neidisch den Baumfalken in der Luft, der auf der Suche nach Nahrung geduldig seine Kreise flog. Er wünschte sich, da oben zu sein, und mit scharfen Augen alles sehen zu können, was sich da unten bewegte. Er würde den Menschen folgen, die mühsam ihren Weg laufen mussten. Ob dieser Vogel auch die Nonnen begleitete, die soeben vorbei gegangen waren?

Durstig trank Roman einen Schluck Wasser. Was hatte er eben gedacht? Vögel, Nonnen, Weg! Roman wurde wieder langsam aktiv. Das Wasser hatte ihn erfrischt. Äh, ja ...

"Seamus, was ist da vorne?" Er zeigte mit dem Finger in die Richtung, wo die Nonnen hergekommen waren.

"Da liegt doch Oxford."

"Oxford? Diese Nonnen gerade, die sind doch nicht aus Oxford mit ihren Gartengeräten gekommen, oder?

"Nein, Sir, bestimmt nicht"

"Also, was ist da vorne?"

"Äh, soweit ich weiß, der Friedhof Wolvercote Cemetry", antwortete der Sergant.

"Was meinen Sie, Seamus, was die Nonnen dort gemacht haben? Soweit ich weiß, ist das ein staatlicher Friedhof. Die haben doch ihren eigenen.

Alarmiert richtete sich Seamus auf. "Inspector, sie meinen doch nicht, das..."

"Na los, Sergant, schauen wir uns mal dort um, besser als hier faul rumzuliegen."

Nach etwa zehn Minuten waren sie an der Ecke Banbury Road und Five Mile Drive. Der Friedhof war mit einer Mauer umgeben. Der Eingang, zwei eiserne verzierten Tore, einer für Fußgänger, der andere für Wagen und Pferde wurden von drei Säulen gehalten.

Die beiden Polizisten ritten den Hauptweg zur kleinen, länglichen, rot überdachten Kapelle und stiegen ab. Es war ein typisch englischer Friedhof. Die meisten Gräber waren mit Steinkreuzen ausgestattet. Viele hatten ein Keltenkreuz als Grabzeichen. Dazwischen sah man Maria Jungfrau und andere Heilige als große und kleine Reliefs abgebildet. Der Wind spielte in den Kronen der Pappeln und Buchen, verzettelte sich in Sträuchern und Büschen, die unten am Weg wuchsen und milderten so die sommerliche Hitze.

Beide Polizisten wussten wonach sie suchen mussten: Frische aufgeworfene Erde, mit oder ohne Grabmal. Stillschweigend trennten sie sich und liefen den Grabanordnungen entlang.

"Sir, Sir", rief es von einer Ecke des Friedhofs, "sie sollten sich das mal ansehen. Was machen wir jetzt? Das ist das einzige Grab mit frischen Blumen hier. Ich denke da an die Nonnen, die uns begegnet sind."

Sie betrachteten einen Sandhügel, mit einem einfachen, etwas verwitterten Holzkreuz. Bepflanzt mit frischen Blumen und kleinen Zweigen bestreut, unterschied er sich von andern Gräbern.

Roman holte tief Luft. "Ich wette, das da unten ist Sir Walter Torley. Holen sie im Zeughaus in der Kapelle dort zwei Schaufeln. Wir machen das Grab auf." Er wusste, dass sein Kopf rollte, wenn er jetzt was falsch macht. "Ich übernehme die Verantwortung, wenn es schief geht, sagen sie Finley Utterson, sie hätten versucht mich abzuhalten es wäre aber zwecklos gewesen."

Seamus zögerte einige Sekunden, dann ging er wortlos zu Kapelle um zwei Schaufeln zu besorgen.

Beide trugen die oberste Sandschicht ab. Dann ging es noch tiefer. Nach etwa zwanzig anstrengenden Minuten war die Suche nach Sir Walter zu Ende. Eine halb verweste Gestalt, mit einem Loch im Schädel lag auf dem Rücken, Sand auf seiner vermoderten Kleidung und die Hände gefaltet.

"Seamus, reiten sie los und holen sie mal wieder die Kollegen von der Spurensicherung und einen Leichenwagen. Jemand muss hier bleiben um aufzupassen."

Der Sergant, froh von hier weg zu können, ritt sofort los.

Zwei Stunden später war die Friedhofsruhe nachhaltig gestört. Genau wie im Kloster standen Pferdewagen herum, liefen Polizisten geschäftig hin und her. Wieder hörte man Anweisungen und Geräusche von Schaufeln und Hacken, und wieder kurze Kommandos. Schließlich trat Ruhe ein.

Der leitende Untersuchungsbeamte trat auf Roman zu. "Der Tote ist mit einem Schlag auf den Kopf getötet worden, das kann man jetzt schon sagen, wahrscheinlich mit einem Stein. Den haben wir aber noch nicht gefunden. Wir suchen noch, und das da fanden wir unter der Leiche, Sir."

Er hatte etwas in der Hand, das ihm, Roman, bekannt vorkam. Er hatte es schon mal gesehen und plötzlich war ihm alles klar. Er wusste jetzt, wo man den Mörder suchen musste.

"Sergant, sehen sie sich das an. Das ist der Schlüssel zur Aufklärung der Tragödie. Kommen sie, wir haben noch einiges vor. Morgen können sie sich ausruhen."

"Sir, was haben wir denn?"

"Sie werden es sehen, Sergant, sie werden es bald sehen, noch heute Abend."



Das Verhör

Mittlerweile war es spät am Abend. Das Wetter war umgeschlagen, dunkle Wolken zogen auf, der Wind wurde stärker. Wahrscheinlich würde es ein Gewitter geben.

Als die beiden Polizisten im Kloster eintrafen, wurde in der Kapelle gerade die Abendandacht gehalten.

Die Nonnen unterbrachen ihre Gebete, als Roman und Seamus durch das Schiff entlang zum Chor liefen. Man hatte Öllampen angezündet, die an den Steinsäulen befestigt waren. Zusätzlich hatte jede Nonne eine brennende Kerze an ihrem Platz, um aus dem Gebetsbuch lesen zu können. Weder die Decke noch Wände der Kapelle waren in der Dunkelheit zu sehen. Der Wind wehte, vom ankommenden Unwetter vorangetrieben, ungestüm durch die zufallende Tür und ließ Kerzen und Lampen aufflackern.

"Ich hoffe, sie haben gute Gründe, den Frieden des Hauses des Herrn zu stören, Inspector". Notburga war sichtlich empört.

"Glauben sie mir, Frau Äbtissin, ich wünschte, es wäre nicht notwendig. Dennoch habe ich gute Gründe dafür. Sie werden es gleich verstehen. Es wäre besser, wenn ihre Schäfchen nicht anwesend sind."

Nachdenklich sah die Äbtissin ihn an. "Gut, Inspector, aber wenn sich das als grundlos herausstellen sollte, haben sie eine Meng zu erklären und nicht nur mir." Sie gab den anderen Nonnen ein Zeichen, diese verließen ihre Plätze, nicht ohne sich vor dem Gekreuzigten zu verbeugen.

"Also was haben sie?"

"Wir haben gute Gründe, sehr gute Gründe sogar, anzunehmen, dass das Verschwinden von Sir Walther hier, mit diesem Kloster zusammenhängt."

"Inspector?"

Roman fasste Notburgas Hand, zog den Ärmel etwas zurück und hielt den Gegenstand der im Grab von Sir Walter gefunden wurde, neben ihren Armreif. Notburga wurde bleich im Gesicht. Sie musste sich setzten. Der Sergant, der bisher von nichts wusste, bescheinigte dem Inspector ein gewisses dramaturgisches Talent.

Alle drei sahen wie gebannt auf das, was der Inspector da in der Hand hielt. Es war genau der gleiche Armreif, den Notburga um ihr Handgelenk befestigt hatte. Aus Bernstein gefertigt, schön verziert und mit Steinen belegt. Beide waren unverwechselbar gleich gefertigt.

"Sehen sie, Frau Äbtissin, wir haben Sir Walther im Wolvercote Cemetry Friedhof gefunden. Unter seiner Leiche lag dieser Armreif. Sie tragen das Gegenstück am Handgelenk. Wollen sie uns nicht erzählen, wer der Besitzer oder besser die Besitzerin hiervon ist." Er zeigte auf den anderen Armreif.

Notburga verlor sichtlich ihre Fassung. Hilflos blickte sie auf den Sergant, dann auf das Kreuz hinter ihr, dann wieder auf die Decke der Kapelle. Sie antwortete nicht.

"Wir können sie auch nach Oxford zur Befragung mitnehmen, Frau Äbtissin, in diesem Falle wird ihre übergeordnete Diözese keine Möglichkeit haben, das zu verhindern. Glauben sie mir, irgendwann werden sie erzählen, was wir wissen wollen."

"Das wird nicht notwendig sein, Inspector, ich kann alles erklären." Alle wandten sich der Stimme zu, die aus einer dunklen Ecke kam. Prudence Hailey, die Priorin, trat hervor. "Der Armreif gehört mir. Notburga und ich", sie machte eine kleine Pause, "wir gehören zusammen, verstehen sie? Er ist ein Zeichen unserer Verbundenheit."

Der Inspector hatte alles erwartet, nur das nicht. Die Geschichte wurde immer rätselhafter. "Was hat das mit Sir Walther zu tun?"

"Prudence, wir hatten doch Stillschweigen vereinbart, was auch immer passiert. Niemand sollte jemals unser Geheimnis kennen." Notburgas Stimme klang angstvoll. Sie stand auf und hielt Prudence an beiden Händen fest. Durch die Lichter der Öllampen und Kerzen machten die schwarz gekleideten Gestalten einen unwirklichen Eindruck, warfen undeutliche Schatten an die Wände der Kapelle. Sie unterhielten sich leise. An ihren Bewegungen ahnte man, welchen Verlauf die Diskussion nahm. Eine Gestalt nahm eine fragende Stellung ein, die andere redete. Während die eine den Kopf schüttelte, nickte die andere Gestalt.

Schließlich sagte Notburga: "Inspector, wir haben beschlossen, ihnen alles zu erklären. Damit sie das auch sofort verstehen, werde ich etwas aus meiner Unterkunft holen. Bitte warten sie hier."

"Da bin ich aber gespannt, Frau Äbtissin, mein Sergant wird sie begleiten."

Beide, Roman und Prudence waren jetzt unter sich und hingen ihren Gedanken nach. Keiner wollte eine Unterhaltung beginnen. Der Wind wurde stärker, aus der Ferne machte sich das Grummeln eines aufkommenden Gewitters bemerkbar.

Dann wurde die Stille durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Der Sergant war allein und sprach schreckhaft: "Sir, die Äbtissin ist verschwunden. Gerade eben. Draußen haben sich alle Nonnen versammelt, ich ging voran um Platz zu schaffen, da entriss die Äbtissin einer Nonne ihre Fackel und verschwand im Dunkeln. Wir müssen sie suchen."



Der Ausbruch

Roman wollte fluchen, hielt sich aber angesichts dieses sakralen Ortes zurück und stürmte an seinem Sergant vorbei ins Freie. Seine erste Überlegung, ob das Tor offen war, erwies sich als falsch. Dann hörte Roman Schreckensschreie aus der Reihe der Nonnen. Sie zeigten auf die Spitze des Turms. Dort oben in dreißig Meter Höhe, direkt am Rande der Plattform sah man Notburga. Die Fackel in der Hand beleuchtet ihr Gesicht und den Oberkörper, alles andere verschluckte die Dunkelheit. Man hörte einige Sätze von ihr, die man wegen der Entfernung und dem Wind nicht verstehen konnte.

Roman eilte zum Turm, stolperte im Eingang über die bedeckte Stelle zur Höhle und eilte die verrottete Treppe hoch. Er hörte noch wie der Sergant hinterher kam, dann war er schweratmend oben.

Notburga hatte die Fackel in der einen Hand, in der anderen mehrere Rollen Papier, die mit Bändern zusammengehalten wurden.

"Kommen sie nicht näher, Inspector, ich springe. Ich meine es ernst."

Roman blieb stehen. "Notburga, ich bleibe hier. Ich darf sie doch Notburga nennen? Wollen sie mir nicht erklären was hier los ist? Ich will es verstehen."

"Inspector, wie sie vorhin gehört haben, es soll ein Geheimnis bleiben." Ihre Stimme klang verzweifelt. "Ich werde meinem Leben ein Ende setzen. Niemand außer Gott allein kann mich zur Rechenschaft ziehen, für das, was ich getan habe." Notburga bewegte sich weiter zur Plattform. Schon stand sie mit beiden Füßen am Rand, ihr Körper versteifte sich. Noch einen Schritt und...!

"Warte, Notburga, du weißt nicht alles." Prudence, die mittlerweile dazugekommen war, ging langsam zum Inspector hin, stützte sich auf dessen Arm, um einen Halt zu haben. "Ich habe dir nicht alles erzählt."

Die Äbtissin dreht sich um. In ihren Augen spiegelte sich das Flackern der Fackel wider. Sie entspannte sich ein wenig. "Dann sag was du zu sagen hast, Prudence, wir haben doch immer einander vertraut, oder?"

"Notburga, ich erzähle dem Inspector die ganze Geschichte, man kann sie nicht mehr rückgängig machen. So oder so, wie es auch ausgehen mag, wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen."

Der Inspector sah Prudence abwartend an. Die Blitze nahmen jetzt an Stärke zu und zum erstenmal hörte man das dumpfe Grollen des Donners. Der Wind nahm an Stärke zu. Viel Zeit hatten sie nicht mehr hier oben. Dennoch war es die Hauptsache, dass Notburga von ihrem Vorhaben abgelenkt wurde.

Prudence erzählte: "Alles fing damit an, dass Sir Walter nicht nur ein Kirchhistoriker war, er betätigte sich auch als heimlicher Bobachter, Inspector. Er beobachtete uns Nonnen nicht nur beim Beten, sondern schaute auch durch die Fenster unserer Zellen, wenn sie wissen was ich meine. Eines Nachts, als ich das Zimmer von Prudence verließ, kam er dazu. Prudence war nicht richtig angezogen und das hatte er gesehen. Er sagte uns, dass es kein Problem wäre, er würde es nicht weiter sagen. Wir waren beruhigt, baten ihn auch, er müsse mit dem Beobachten aufhören."

Prudence macht eine Pause. Für sie war die Erinnerung anstrengend.

Überraschend meldete sich Notburga. "Lass mich weitererzählen Prudence, du bist zu eng mit der Geschichte verbunden. Also, Inspector, hören sie zu, sie werden uns dann besser verstehen.

Es war am 12. Juli 1791 gegen ein Uhr nachmittags.

Sie erzählte...



Rückblick

Die Nonnen haben gerade Mittagsruhe, einige sitzen teilweise im Gras, andere teilweise auf den Stühlen im Schatten des Kreuzganges, als die Torglocke anschlug. Wie immer öffnet Brenda Gleeson das Tor und herein tritt eine vornehm gekleidete, männliche Gestalt, etwas weniger als 60 Jahre alt, mit einer Ledertasche in der Hand. Gerade gewachsen in seiner Gestalt geht er aufrecht zur Gruppe der Nonnen zu.

"Ich bin Josef Haydn, ein Komponist, auf der Rückreise von Oxford nach London. Meine Kutsche hat einen Radbruch und muss repariert werden. Ich habe schon meinen Diener zurück nach Oxford geschickt. Es wird wohl einige Zeit vergehen. Meine Hände, wo kann ich sie waschen, und wenn ich bei dieser Hitze etwas zu trinken bekommen könnte?"

Er sieht beim Reden jeder Nonne ins Gesicht, so dass man meint, Haydn spreche mit dieser Person direkt, dennoch ist seine Rede an alle gerichtet. Haydn zögert auch ein paar Mal, so als erinnert er sich an jemand hier.

Notburga tritt hervor. "Ich bin Notburga Gale, die Äbtissin, ihr seid selbstverständlich willkommen, Herr Haydn, ich hörte, euch ist der Ehrendoktorrat der Musik der Stadt Oxford verliehen worden. Wie fühlt ihr euch? Wollt ihr mir ein wenig davon erzählen? Wir teilen gerne Wasser und Essen, ihr werdet aber besseres gewöhnt sein als unsere Kost, nicht wahr? Begleitet mich in mein Amtszimmer, da könnt ihr es euch bequem machen."

Zur Köchin Violet gewandt: "Bring Herrn Haydn etwas zu essen und zu trinken."

Die anderen Nonnen kicherten, manche waren auch neidisch auf das Privileg der Äbtissin, sich so einem vornehmen Mann widmen zu können.

"Das war die Zeit als wir Josef Haydn, den berühmten Komponisten kennenlernten", beendete Notburga ihre Rückblende.



Ein unerwartetes Ende

Die Dämmerung wechselte schnell zur Dunkelheit, das Unwetter kam näher, der Wind frischte auf und mehrere Regentropfen fielen. Ein Blitz, nicht weit entfernt, warf ein gespenstisches Licht auf die Plattform des Turms, das noch durch die Fackeln verstärkt wurde.

Notburgas Stimme wurde lauter, sie musste die Geräusche des Unwetters übertönen. "Wir haben uns lange unterhalten, Inspector, wir entdeckten gemeinsame Interessen. Es hat mir gut getan mich mal wieder mit einem fremdem Menschen auszutauschen."

Sie lachte und weinte gleichzeitig. "Sehen sie das, Inspector? Josef hat mir das hier gezeigt."

Sie bewegte die Hand mit den Papieren nach oben. "Wissen sie was das ist?" So etwas Wunderbares und Schönes hat noch nie ein Mensch geschaffen. Ein Genie, der dieses Oratorium komponierte, wie es die Welt noch nie gehört hatte, ein unbekanntes Werk von ihm. Er nannte es "Der Untergang". Es sollte das Gegenstück zu seiner Schöpfung sein. Er meinte damit den endgültigen Untergang der Menschen. Gott löscht alles Lebewesen auf der Erde aus, durch endlose Unwetter, Stürme, Hitze und Kälte, weil die Menschen undankbar und egoistisch geworden sind. Diesmal sollten sie nicht so gut davonkommen wie bei der Sintflut. Sehen sie das Inspector? Josef hat mir seine musikalische Schöpfung über den Untergang der Welt als Erste gezeigt, später wollte er es an die Öffentlichkeit bringen, ich empfinde das als Liebesbeweis." Sie weinte wieder.

Einige Momente war es ruhig auf der Plattform, sogar der Wind hatte sich gelegt, das Unwetter machte Pause, man hörte nur den Regen, der langsam stärker wurde.

"Was hat Sir Walther damit zu tun? Das verstehe ich nicht."

Jetzt meldete sich Prudence, die bisher auffällig still gewesen war.

"Sehen sie Inspector, die Kutsche von Josef Haydn war auch am späten Abend noch nicht repariert, wir mussten ihm eine Schlafgelegenheit bieten. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück hat er das Kloster verlassen und dieses Oratorium im Refektorium vergessen." Sie zeigte auf die Rollen, die Notburga in der Hand hielt.

"Wir haben gewartet, ob Josef sein Eigentum zurückholt, er kam aber nicht. Hatte es einfach vergessen. Wir haben lange überlegt, was wir damit machen sollten. Dann verstecken wir es in der Bibliothek in einem Regal hinter Büchern. Die Rollen sollten solange dort bleiben, bis eine Lösung gefunden war. Die Bibliothekarin Aeltfthryd wischt ja so gut wie kein Staub, es war ein gutes Versteck. So dachten wir. Leider hat Sir Walter seine Aufgabe hier zu genau genommen. Als Kirchenhistoriker hat er die ganze Bibliothek durchforstet und dann die Rollen gefunden. Nach 19 Jahren!"

Die Äbtissin schrie dazwischen: "Das Werk gehörte mir, Josef hat es mir als Einzige gezeigt, mir die Grundmelodie auf unserem Klavier vorgespielt und dazu gesungen." Sie lächelte bei dem Gedanken. "Das Werk gehört mir und niemand sonst." Notburga hob die Rollen zur Bekräftigung ihrer Aussage nach oben.

Prudence erzählte wie es weiterging. "Sir Walther verließ einfach das Kloster mit den Rollen in der Hand, Inspector, können sie sich das vorstellen? Er drohte der Diözese alles zu erzählen, was zwischen Prudence und mir war. Wir sollten still sein. Er lachte uns aus und ging einfach durch das Tor."

"Was geschah dann weiter?"; fragte Roman.

"Wir liefen ihm nach, Inspector, er wollte offenbar nach Oxford. Wir redeten auf ihn ein, aber er wollte nicht hören. Schließlich sagte er noch, er würde denen jetzt alles über uns erzählen, jetzt erst recht. Das Oratorium würde er verkaufen. Es würde viel Geld bringen, ein Jahr nach Haydns Tod."

Jetzt meldete sich wieder Notburga: "Uns, das heißt mir, blieb schließlich keine andere Möglichkeit mehr. Ich habe einen Stein genommen und auf Sir Walther eingeschlagen. Ich wollte ihm nur die Rollen wieder abnehmen, nicht umbringen. Er ist unglücklich gefallen und liegengeblieben." Notburga atmete schwer, als die Erinnerung aufkam.

"Wir wussten zuerst nicht wohin mit Sir Walther. Dann sahen wir den nah gelegenen Friedhof. Prudence und ich haben fast den ganzen Nachmittag damit verbracht, Sir Walter dort einzugraben. Wir hatten Angst, dass jemand hinzukommt. Am nächsten Tag sprachen wir mit dem Friedhofsgärtner, sagten, das wäre eine exkommunizierte Nonne, die plötzlich gestorben wäre. Sie dürfe nicht bei uns begraben werden. Jetzt pflegen wir regelmäßig das Grab, Inspector. Auch wenn Sir Walter es nicht verdient hat, letztendlich sind wir doch eine christliche Gemeinschaft."

Notburga hatte offenbar ihrer Meinung nach genug erzählt. Sie sah noch mal die Personen hier oben an, als wollte sie sie um Vergebung bitten. Ihr Blick weilte etwas länger auf Prudence, als wollte sie noch etwas sagen, Dann drehte sie sich wieder dem Abgrund zur Plattform hin und streckte beide Arme aus, wie um die Welt zu umarmen. Noch ein Schritt weiter, dann wäre es getan.

Das Unwetter musste bald hier sein, der Wind hatte sich zu einem Sturm verwandelt. Alle hier oben waren vom stärker werdenden Regen mittlerweile nass geworden. Die Wolkenmassen waren bleiförmig und fortwährend durchzuckt von Blitzen und dem Grollen heftige Donnerschläge. Die Fackeln wurden langsam schwächer.

"Warte, warte Notburga, du weißt nicht alles, höre es dir an, bevor du..." Prudence beendete diesen Satz nicht.

Notburga trat einen kleinen Schritt zurück und drehte sich herum. Es sah aus wie ein Aufforderung: "Sag was du zu sagen hast, es ändert sich ja doch nichts."

"Hör mir zu, Notburga, Josef und ich, wir", sie machte eine Pause und kam näher, weil Sturm und Regen keine normale Unterhaltung mehr zuließ, "Haydn und ich wir kannten uns von früher aus London. Wir sind uns vor fünfundzwanzig Jahren begegnet und waren einige Zeit zusammen. Er hatte unsere Verbindung beendet. Damals als er das Kloster betrat, haben wir uns wieder gesehen."

Notburgas Gestalt spannte sich wieder, Tränen liefen in ihr kreidebleiches Gesicht. Sie öffnete den Mund als wollte sie etwas sagen.

Der Inspector und Seamus hörten gespannt zu, denn beide wollten das Drama bis zum Ende hören.

Prudence erzählte weiter von dem Wiedersehen zwischen ihr und Josef Haydn.

"Was dann geschah, hat mit dir nichts zu tun, Notburga. Ich habe bei ihm in seinem Zimmer übernachtet. Es ist einfach passiert, Notburga." Trotz dem Ernst der Lage lächelt Prudence bei dieser Erinnerung. Dann fügte sie noch hinzu: "Und es war schön. Es ist schon lange vorbei. Komm zu mir zurück."

Prudence ging mit erhobenen Armen einen Schritt an dem Inspector vorbei, so als wollte sie Notburga in ihrem Tun aufhalten.

Alle sahen zu Notburga hin. Was würde sie jetzt machen?

Diese hob wieder die Arme hoch. "Josef hatte seine Liebe zu mir gestanden, sie war stärker als zu dir, das wusste ich. Ich liebe ihn immer noch so, dass er nicht sterben kann oder nur mit mir zusammen. Prudence. Niemand soll unsere Liebe zerstören, er und dieses wunderbare Werk werden für immer bei mir sein"

Mit diesen Worten hielt Notburga die Rollen des Oratoriums "Der Untergang" von Josef Haydn an die Fackel, die trotz des Regens sofort Feuer fingen.

"Nein, nein, Notburga, was machst du da!" Prudence lief auf die Äbtissin zu und wollte ihr die Rollen entreißen.

Ein greller Blitz zuckte aus den Wolken, der Notburgas Kopf wie ein Feuerball umhüllte. Gleichzeitig erschütterte ein ohrenbetäubender Donnerschlag den Turm. Die getroffene Gestalt krümmte sich zusammen und wurde durch die Wucht des Einschlags mit den brennenden Rollen in der Hand vom Rand des Turmes geschleudert. Man hörte trotz des Regens und des Sturmes noch einen langgezogenen entsetzlichen Schrei, der in der Tiefe verhallte.



Epilog

Wir sind am Schluss der Geschichte angekommen. Zu Ende jedoch ist sie nicht, denn erst müssen wir der Vollständigkeit halber das weitere Schicksal der Protagonisten aufzählen.

Notburga Gale, die Äbtissin, hat den Sturz vom Glockenturm nicht überlebt. Ein Friedensrichter aus Oxford wollte sie als Selbstmörderin außerhalb eines Friedhofs vor Sonnenaufgang durch einen Totengräber in nicht geweihter Erde, ohne ein Kreuz, begraben lassen.

Nach langem Hin und Her zwischen der Diözese einerseits und dem Bürgermeister und den Nonnen andererseits und auf Grund der Tatsache, dass ihr Tod durch einen Blitz und nicht durch eigenen Entschluss verursacht wurde, konnte sie jedoch auf dem kleinen Friedhof im Kloster begraben werden.

Prudence Hailey, die Priorin wurde wegen Beihilfe zum Mord angeklagt und musste zehn Jahre in das Malmaison Oxford Castle Gefängnis verbringen.

Das unbekannte Werk von Josef Haydn konnte trotz intensivem Bemühen von Restauratoren nicht mehr gerettet werden.

Der Police-Inspector Roman Cadwallader hat wieder seine alte Stelle in London angenommen.

Der Police-Sergant Seamus Grayson wurde daraufhin zum Police-Inspector befördert.

Das Frauenklosters Godstow wurde im Zuge der staatlichen Klosterschließungen aufgelöst und die Nonnen auf andere Einrichtungen verteilt.

Nicodemus Norsworthy, das Ratsmitglied des Bürgermeisters, wurde wegen seiner Verdienste für die Stadt Oxford in den Kreis der "Dreizehn" mit der Begründung aufgenommen, weil er sich für die Entdeckung der Höhle im Kloster eingesetzt hatte.

Die freiwerdende Stelle wurde mit der Bibliothekarin Aeltfthryd Ainsworth besetzt.

Das größte Rätsel dieser Geschichte aber, die geheimnisvollen Toten unter dem Glockenturm wurde zwar gelöst, ist aber der Öffentlichkeit vorenthalten worden. Hier an dieser Stelle soll es zu lesen sein:

Die damalige englische Kolonialpolitik wurde nicht von allen in Großbritannien unterstützt. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika ("The Unanimous Declaration of The Thirteen United States of America") am 4. Juli 1776 wurde auch in Oxford von manchen Gruppen, besonders auch an den Universitäten, begrüßt.

Im Herford College in Oxford gegenüber der Catte Street waren eine Gruppe von fünfzehn amerikanischen Studenten eingetragen die auch dort wohnten. Diese organisierten eine Pro-Demo, die von den "Dreizehn" missbilligt wurden.

(Anm. "Die Dreizehn" war eine kommunale Einrichtung jener Zeit und bestand aus einem Bürgermeister, vier Aldermen und acht Assistenten. Sie bildeten ein Kabinett und hatten weitreichende Befugnisse.)

So beschlossen diese "Dreizehn", die politisch schon immer nationalkonservativ eingestellt waren, diese Studenten zu beseitigen, holten sie Nachts ab und fesselten sie in der Höhle im Kloster so, dass sie sich nicht befreien konnten. Um ihre Tat zu verdecken, "spendeten" sie dem Kloster den Turm und ließen ihn über den Eingang der Höhle errichten. Ein ideales Versteck, das niemals entdeckt worden wäre, hätten die Bauarbeiter ordentlich gearbeitet. So aber ist der Turm frühzeitig baufällig geworden und eine herunterfallende Glocke hat durch ihr Gewicht den verborgenen Eingang zur Höhle gelockert.

"Die Dreizehn" von damals waren nach so langer Zeit nicht mehr im Kabinett und ehrbare Ruheständler geworden oder verstorben. Man hatte vier von ihnen ausgemacht und verhört. Es kam aber zu keinem Prozess, da das aktuelle Kabinett, die kontemporäre "Dreizehn", keinen "nachweislichen Handlungsbedarf" sahen.

Diese Geschichte ging zwar in die Chroniken von Oxford ein, wurde aber nur durch einen kleinen Fußnotenverweis in den Büchern festgehalten.



Anhang

Personen

Roman Cadwallader: Police-Inspector
Finley Utterson: Police-Chief-Inspecor
Sir Walter Torley: Kirchenhistoriker
Notburga Gale: Äbtissin
Prudence Hailey: Priorin Stellvertreterin Äbtissin
Brenda Yeardley: als Hospitalaria eingesetzt
Brenda Gleeson: Nonne
Violet Adderley: Nonne und Köchin
Aeltfthryd Ainsworth: Biblothekarin
Nicodemus Norsworthy: Ratsmitglied des Bürgermeisters in Oxford
Nepomuk Eastaway: Lieferant